Die Primärtheorie ist denkbar einfach:
Neurose und Psychose sind graduelle Abstufungen einer Krankheit des Gefühls,
oder anders gesagt sind sie Nicht-Fühlen. Die einzige Heilmethode
ist demzufolge das Fühlen, zu dem die Primärtherapie verhelfen
will.
Beim gesunden Menschen bilden Körper, Gefühl und Verstand eine
organismische Einheit. Sie stehen in ständiger Wechselbeziehung zueinander
und sind vollkommen dem Bewußtsein zugänglich Traumatische
Ereignisse, besonders zu Beginn des Lebens, wenn der Mensch noch sehr
offen, abhängig und verletztlich ist, führen dazu, daß
sich der Organismus gegen die gemachten Erfahrungen verschließt.
Er entwickelt Strategien, diese katastrophalen Ereignisse und die damit
verbundenen Gefühle abzuwehren, sodaß der freie Austausch zwischen
den Bewußtseinsebenen und damit auch der Fluß der Lebensenergie
blockiert wird. In der Therapie wird der umgekehrte Weg eingeschlagen:
Der Patient wird angehalten, sich aufmerksam zu beobachten, um herauszufinden,
wie er das Fühlen vermeidet. Er wird ermuntert, Wahrnehmungen und
Empfindungen ehrlich und frei zu äußern, aufkommende Gefühle
zuzulassen und Impulsen des Körpers zu folgen. Auf diese Art und
Weise wird ein Prozeß in Gang gesetzt, der die Neurose umkehrt.
Blockierungen werden aufgelöst, die Lebensenergie wieder in Fluß
gebracht und Lebenszusammenhänge verständlich gemacht.
Wichtig dabei ist ein behutsames Vorgehen, damit die Entwicklung organisch,
dem Rhythmus und Tempo des Patienten entsprechend, verläuft. Die
tiefsten Schichten sind zumeist so schmerzbeladen und angsterfüllt,
daß ein zu frühes, unvorbereitetes Konfrontieren damit verheerende
Folgen haben kann. Manchmal dauert es Jahre, bis ein Mensch in der Lage
ist, sich dem inneren Horror ganz zu stellen.
Im Kern handelt es sich bei den traumatisierenden Ereignissen fast immer
um lebensbedrohende Situationen, sodaß im Lauf der Therapie häufig
Gedanken an Tod und Selbstmord auftauchen, die eine bewußte Neu-Entscheidung
für das Leben herausfordern. Sie ist daher nur mit Patientin durchführbar,
die außer einer ernsthaften Motivation auch eine gewisse Grundstabilität
mitbringen oder über ein soziales Umfeld verfügen, das die Unsicherheiten
auffangen kann, die eine Primärtherapie hervorrufen kann.
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